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Geschlechterverwirrungen

Was wir wissen, was wir glauben und was nicht stimmt

Erschienen am 11.03.2020, 1. Auflage 2020
29,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593512204
Sprache: Deutsch
Umfang: 248 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 21.5 x 14.2 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

In Geschlechterfragen kann jede*r mitreden - und ist dabei oft von Irrtümern und Vorurteilen geleitet. 32 Autorinnen und Autoren befassen sich in diesem Band mit unserem Wissen, Glauben und Nichtwissen zu Geschlecht und »Gender«. Die Beiträge, die von historischen über philosophische und körperbezogene bis zu politischen Themen reichen, wollen sachkundig informieren, seriös aufklären - und auch ein wenig verwirren, indem sie ihren Gegenstand von unterschiedlichen Seiten betrachten und dabei zeigen, was wir nicht wissen.

Autorenportrait

Barbara Rendtorff ist Seniorprofessorin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt am Main. Claudia Mahs, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn und Geschäftsführerin des Zentrums für Geschlechterstudien/Gender Studies. Anne-Dorothee Warmuth ist wiss. Mitarbeiterin am Institut fur Erziehungswissenschaft und dem Zentrum für Geschlechterstudien/Gender Studies an der Universität Paderborn.

Leseprobe

Vorwort Was wir wissen - das ist manches Mal eher ein Glauben-zu-wissen, ein Dafürhalten, ein Das-weiß-man-doch, das weiß doch jeder! Und dann verwechseln wir Glauben und Wissen, ohne es zu merken, und wissen zuletzt etwas, was gar nicht stimmt - wissen also etwas, was man eigentlich gar nicht wissen kann, eben weil es nicht stimmt. Gerade in Bezug auf Geschlechterfragen meinen die meisten Leute, sich auszukennen - betrifft es doch alle auf irgendeine Weise. Und wer glaubt, etwas zu wissen, prüft es auch eher nicht nach. Diese Erfahrung hat uns zu dem vorliegenden Buch motiviert. Die 32 Texte, die hier versammelt sind, befassen sich mit Fragen und Themen, bei denen das, was wir wissen, was wir glauben und was wir nicht wissen, häufig durcheinander gerät und sich vermischt. Die Beiträge, die von historischen über philosophische, von körperbezogenen bis zu politischen Themen reichen, wollen sachkundig informieren, seriös aufklären - und auch selber ein wenig verwirren, indem sie ihren Gegenstand von unterschiedlichen Seiten betrachten und entfalten und immer wieder zeigen, was wir nicht wissen. Wir wünschen unseren Leser*innen eine vergnügliche, interessante und durchaus auch lehrreiche Lektüre! Die Herausgeberinnen Geschlecht, Kultur, Religion Was ist eigentlich so besonders an Geschlecht und Geschlechtlichkeit? Barbara Rendtorff Das Besondere an Geschlecht, um das gleich vorwegzunehmen, ist die verwirrende Verquickung einer existenziellen Dimension mit einem riesigen Überbau von Zuschreibungen, Ausgestaltungen von männlich und weiblich, die historisch veränderlich sind, den Individuen aber gleichwohl als authentisch, naturwüchsig und normal erscheinen. Verwirrend ist diese Verquickung, weil sie den Einzelnen die Herausbildung einer eigenen Geschlechtlichkeit erschwert, und weil sie ein spezielles logisches Problem aufwirft: Auf der existenziellen Ebene sind bekanntlich zwei unterschiedliche Elemente notwendig, um Leben hervorzubringen - Samen und Eizelle, ein männliches und ein weibliches. Sonst gäbe es uns alle nicht. Dies scheint nun insgesamt eine zweigeschlechtlich geordnete Struktur nahezulegen, den Kurzschluss: Was an dieser Stelle stimmt, müsse auch für alles andere gelten. Aber dieser Schluss, so naheliegend er erscheinen mag, ist keineswegs zwingend - und das zu durchdenken, ist deutlich schwieriger als ein schlichtes Eins-zu-Eins von Natur und Kultur anzunehmen. Nicht zuletzt deshalb neigen viele dazu, sich den jeweiligen Erklärungen anzuschließen, die ihnen in ihrer Zeit und Umgebung als naheliegend und plausibel angeboten werden - und deshalb finden sich eben auch historisch höchst unterschiedliche plausible Erklärungen, die verdeutlichen, wie widersprüchlich, sogar antagonistisch hier argumentiert wird, und doch jeweils im Duktus einer Wahrheit. Hierzu einige Schlaglichter. Der Leib und das Sexuelle Die existenzielle Dimension der menschlichen Natur, die Geburtigkeit, hat als Kehrseite natürlich auch die Sterblichkeit - Menschen müssen sterben, weil sie geboren wurden, sonst wären sie wie die Götter unendlich. Auch die Endlichkeit ist also im Bedeutungshorizont des Sexuellen enthalten, ebenso wie das Unplanbare, Unvernünftige der erotischen Anziehung und das auflösende, entgrenzende Moment im sexuellen Genießen. Dies scheint mir ein Grund dafür zu sein, warum Geschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft so dramatisiert und kontrolliert wird - ist sie doch ein lebendiger Einspruch gegen Abgegrenztheit, Steuerbarkeit, Plan- und Beherrschbarkeit und damit eine Quelle ständiger Beunruhigung: Je unsicherer das Gefüge einer Gesellschaft, desto rigider kontrolliert sie den Bereich des Sexuellen. Auch die routinemäßige Verknüpfung von Sexualität und Begehren mit einem andersgeschlechtlichen Anderen ist als Konvention Teil dieser gesellschaftlichen Ordnungsbemühungen. Wenngleich manche alten Mythen eine naturgemäße heterosexuelle Anziehung behaupten, so gilt dies doch nur für den Gattungserhalt, die Fortpflanzung, nicht für das sexuelle Genießen. Und da die meisten sexuell aktiven Erwachsenen häufiger Sex haben als sie Kinder zeugen oder empfangen, ergibt sich daraus auch kein Widerspruch - selbst wenn man der Vorstellung anhängt, dass es eine lebenslange Entscheidung für nur eine Sorte von sexuellen Begehrensobjekten gäbe, was ja bekanntlich nicht der Fall ist. Die Entgrenzung, die Auflösung im und am Anderen im sexuellen Akt ist also vielfältig gestaltbar, ist Teil der jeweils eigenen Leiberfahrung - eben deshalb nennt Freud den Orgasmus ein ozeanisches Gefühl und einen kleinen Tod - ist aber auch mitbestimmt und begrenzt durch das kulturelle Denkgefüge, in das die Einzelnen hineingeboren wurden, individuell und überindividuell zugleich, und durch den existenziellen Bezug auch überzeitlich. Von den Philosophen, die sich mit dieser Dimension des Sexuellen befasst haben, hat Jean-François Lyotard dies besonders pointiert formuliert, wenn er die Geschlechterdifferenz als das Paradigma für das unvollkommene Sein des Geistes bezeichnet. Ganz im Gegensatz zu den scheinbaren Wahrheiten über männlich und weiblich mache Geschlecht das »Prinzip des Einsseins« zunichte (Lyotard 1988: 829) - und weil die existenzielle Dimension immer darin mitschwingt, und weil das sexuelle Genießen jene dramatische Seite hat, haftet der Geschlechtlichkeit immer auch etwas zutiefst Beunruhigendes an. Gerade weil es hier um starke Empfindungen und aufgeladene Bedeutungen geht, ruft gewissermaßen der sexuelle Körper selbst dazu auf, Geschlecht und Geschlechtlichkeit mit Erklärungen und Ordnungen zu beruhigen - ohne allerdings selbst schon irgendeine Struktur zu setzen. Und dies ist das Einfallstor für alle möglichen gesellschaftlichen Akteure, diese Ordnungen im eigenen Interesse zu gestalten. Geschlecht und Gesellschaft Die Weltgeschichte ist deshalb voll mit unterschiedlichsten Mustern, um das Sexuelle zu charakterisieren und zu regulieren - von der gesellschaftlich legitimierten Päderastie im antiken Griechenland bis zu Gesellschaften, die heterosexuelle Aktivitäten mit Familiengründung verbinden (vorher ist erlaubt, was hinterher versagt wird; oder gerade umgekehrt) oder die Erwachsenen danach unterscheiden, ob sie Nachwuchs hervorgebracht haben oder nicht usw. Und irgendwann hat sich zumindest im europäischen Raum die Vorstellung durchgesetzt, dass die weibliche Sexualität irgendwie wilder, anstößiger, unmäßiger, schwerer zu kontrollieren und mithin gefährlicher sei als die männliche - sei es, weil die Erregung weniger leicht von außen zu erkennen ist und scheinbar weniger anfällig gegen Störungen der Tumeszenz (dem Auf- und Abschwellen), oder sei es, auf einer ganz anderen Ebene, um in patriarchalen Gesellschaften die leibliche Vaterschaft kontrollieren zu können, was entscheidend dazu beigetragen hat, die Frauen den Männern zu unterstellen. Jedenfalls wurden Kontrolle und Tabuisierung der weiblichen Sexualität zur fixen Idee, es etablierte sich eine enge Verknüpfung von Öffentlichkeit, Sittsamkeit und Weiblichkeit - mit dem Ergebnis, dass das öffentliche Auftreten, die öffentliche Rede von Frauen wie eine prostituierende sexuelle Handlung, Zurschaustellung des sexuellen Körpers erschien. Wir finden dieses Muster im Ersten Gesang der Odyssee, wenn der noch jugendliche Telemachos seiner Mutter Penelope den Mund verbietet (Die Rede gebührt den Männern) und sie des Raumes verweist (Mein ist die Herrschaft im Hause) oder in Paulus Korintherbrief (Das Weib schweige in der Gemeinde) über das prüde misogyne 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit (sehr klug beschrieben von Mary Beard 2017). Jede gesellschaftliche Ordnung hat die Aufgabe, gesellschaftliche Konventionen und Machtgefüge zu plausibilisieren (unabhängig davon, ob sie tatsächlich plausibel sind), abzusichern und dabei auch die jeweiligen Interessen der beteiligten Akteure zu verschleiern - und die Dimension des Geschlechtlichen eignet sich offenbar besonders gut dazu, sie als Instrument zur Stab...